Jul 26, 2022  |   No Comments

Labyrinth der Spiegel

Ebook Der See - Emily Cole

„Labyrinth der Spiegel“
Taschenbuch: 240 Seiten
Verlag: Titus Verlag (September 2022)
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3-946353-56-0

Inhalt

Ein Anruf aus London reißt den jungen New Yorker Architekten Damien Hunter aus seinem beschaulichen Leben und zwingt ihn zu einer Reise in seine Vergangenheit. Unwillig macht er sich auf nach Hampton Hall, dem alten Herrenhaus seiner Vorfahren in North
Devon, um die Angelegenheiten seiner Großcousine zu regeln, die nach einem mysteriösen Unfall im Koma liegt. Dort angekommen merkt er schnell, dass in Hampton Hall nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Am eigenen Leib spürt Damien die paranormale Energie des unheimlichen Anwesens und schwebt plötzlich in höchster Lebensgefahr.

 

 

Leseproben

Leseprobe

Schwer atmend blieb Damien stehen. Er wandte sich um und blickte über den staubigen Schotterweg. Die dichte Barriere des hohen Dornengestrüpps, welches den sich durch die Hügel windenden Weg zu beiden Seiten säumte, versperrte ihm die Sicht auf die Strecke, die er bereits hinter sich gelassen hatte. Wenigstens drei Meilen an Fußmarsch, die sich dank der brütenden Hitze doppelt so weit anfühlten. Selbst ohne die stete Steigung hätte ihn die Strecke aus der Puste gebracht. Seine Lungen brannten. Er war am Ende.
Er nahm die Sonnenbrille ab und rieb sich aufseufzend die Nasenwurzel, wo sie einen tiefen Abdruck hinterlassen hatte. Dann wischte er sich mit dem Ärmel seines weißen Button- down-Hemdes die Schweißperlen von der Stirn. Damien hatte davon gehört, dass der Wetterdienst für North Devon eine ungewöhnliche Hitze vorausgesagt hatte. Geglaubt hatte er es allerdings nicht. Nicht im Oktober. Doch das Wetter verhielt sich, als hätte es von der Meldung gewusst. Fluchend trat er gegen einen kleinen Stein und beobachtete ihn, wie er hektisch davonkullerte und im Gebüsch einen Vogel aufschreckte, der schimpfend davonflog.
Zum Ärger über die Hitze gesellte sich unbändige Wut auf seinen Budget Mietwagen. Dieser hatte kurz vor dem Ziel den Geist aufgegeben. Er hatte bereits zu Beginn der Fahrt auf der M4 zwischen London und Bristol merkwürdig zu stottern begonnen. Damien hatte die Hoffnung nicht aufgeben wollen, es wenigstens bis Mortehoe zu schaffen. Doch dann war der Motor auf der Landstraße kurz vor Barnstaple nach einigen lauten Fehlzündungen abgestorben. Selbst Damiens lautstarkes Fluchen und wütendes Schlagen mit den Fäusten gegen das Lenkrad hatten den Wagen nicht wieder in Gang gesetzt. Natürlich nicht. Er hätte besser daran getan den Maserati zu nehmen, so viel war schon mal sicher. Aber der stand natürlich weit entfernt in einem gesicherten Parkhaus nahe seinem Apartment am Central Park in New York und schlummerte friedlich unter einer schützenden Stoffhaube. Es war zum Kotzen.
Jetzt stand er hier. Verstaubt, genervt und durstig. In für diese Gegend unüblicher Hitze. Einer gottverlassenen Gegend, in der er nie zuvor gewesen war. Weit weg von jeglicher Zivilisation. Um sich um Dinge zu kümmern, die ihn nichts angingen.
»Verflucht seiest du, Dr. Oberarsch Pemberton. Verdammte Scheiße.«
Er wandte sich wieder um und beschattete seine zimtbraunen Augen gegen den grellen Sonnenschein. Die hatte er von seiner Mutter geerbt, wie das sensible Wesen, das er hervor- ragend zu verbergen wusste. Von seinem Vater hatte er die etwas zu große Hakennase, das volle schwarze Haar und die muskulöse, hochgewachsene Statur. Damien Hunter war ein gutaussehender Mann. Daran konnte auch sein missmutiger Gesichtsausdruck nichts ändern.
Von hier aus konnte man Hampton Hall noch nicht sehen. Das gewaltige Herrenhaus, das er bislang nur von Bildern kannte, blieb seinem Blick hinter den grasbedeckten, sanft ansteigenden Hügeln verborgen, die vor ihm lagen. Vorausgesetzt, er hatte sich an jeder Kreuzung für die richtige Ab- zweigung entschieden, konnte es nicht mehr allzu weit entfernt sein, denn keine zehn Schritte von ihm entfernt sah er eine kleine Herde schwarzgefleckter Schafe. Sie trugen schwer an ihrer dicken Wolle und grasten friedlich zwischen den Hügeln und Felsen. Da Hampton Hall das einzige Anwesen weit und breit war, gehörten die Tiere ohne Zweifel dorthin. Er seufzte laut auf. Einige der Schafe hoben die Köpfe und beobachteten ihn misstrauisch. Damien verzog die Lippen zu einem Grinsen, fuchtelte wild mit den Armen und klatschte ein paar Mal laut in die Hände. Wie erwartet stoben die Schafe erschrocken auseinander und rannten blökend davon. Das hektische Klingeln der Glöckchen am Hals der Tiere entfernte sich und verstummte. Damien lachte auf.

Als er seinen Weg fortsetzen wollte, fiel sein Blick auf einen schmächtigen kleinen Jungen, der etwa 50 Meter links von ihm entfernt auf einem steinigen Hügel stand. Er hatte kurzes, fast schwarzes Haar, trug eine viel zu große blaue Latzhose, ein abgegriffenes helles Hemd und sah schweigend zu ihm herüber. Sicher hatte der Junge mitbekommen, dass Damien seine Schafe verscheucht hatte. Peinlich berührt winkte er dem Jungen.
»Sind das deine Tiere?«, rief er ihm zu.
Der Junge antwortete nicht.
»Ist das hier der richtige Weg nach Hampton Hall?«, fragte er
lauter und deutete den Weg hinauf.
Doch auch diesmal gab der Junge keine Antwort. Damien
zuckte mit den Achseln.
›Dann eben nicht‹, dachte er und wandte sich zum Gehen.
Da hob das Kind zögerlich den Arm und deutete über die Hügelkette in nördliche Richtung.
»Danke«, rief er ihm zu und hob den Daumen nach oben. »Merkwürdiges Kind«, murmelte er leiser vor sich hin und drehte sich um. »Scheinen nicht viel zu reden, die Leute hier.« Und überhaupt, wie konnte jemand einen so kleinen Jungen mutterseelenallein in dieser völlig abgeschiedenen Gegend zum Schafe hüten schicken? Unverantwortlich, wie er fand. Scheinbar mussten in North Devon die Kinder schon zeitig mit anpacken. Nach ein paar Schritten wandte er sich noch einmal um, und hielt überrascht inne. Der Junge war verschwunden. Damien wunderte sich, wie der kleine Kerl so schnell hatte verschwinden können.
Dann dachte er nicht mehr an ihn.
Damien ging weiter. Vorbei an kleinen, verlassenen Gehöften mit eingefallenen, von hellen Flechten und grünem Farn überzogenen Dächern. Vorbei an wild wuchernden Büschen aus Heidekraut, roter Erika und Farn, zwischen denen immer wieder bizarr in den Himmel ragende Felsen hervorstachen. Seine Wut auf den Wagen ließ ihn von der Schönheit der Landschaft jedoch kaum Notiz nehmen. Immer wieder schimpfte er leise und keuchend vor sich hin und wünschte den jungen Mann der Autovermietung, der ihm den Wagen zugeteilt hatte, ebenso zur Hölle, wie den Wagen selbst. Seine Schritte knirschten auf den kleinen Steinen, während ihn Durst auf ein kühles Bier und die Neugier auf den berühmten Sitz seiner Familie vorantrieb.
Die Nachmittagssonne, die ihm unbarmherzig auf den Rücken schien, stand bereits eine Handbreit über den Gipfeln eines kleinen Wäldchens, als er ächzend den letzten Hügel umrundete und das Ende des Weges erreichte. Er hörte einfach auf. So plötzlich, dass Damien abrupt stehenblieb.
»Ach du Scheiße.«
Verblüfft blickte er auf eine langgezogene, mannshohe Feldsteinmauer, die sich vor ihm auftürmte und den Weg versperrte. Wild wuchernder Efeu hatte die uralten, verwitterten Steine eng umschlungen. Die langen Wurzeln gruben sich knochigen Fingern gleich in Ritzen und aufgebrochene Spalten. Unkraut, Wind und Wetter hatten ihr Übriges getan und Lücken hinterlassen, die aussahen, als habe ein Riese seinen Zorn an der alten Mauer ausgelassen. Dessen ungeachtet war sie beeindruckend.
Wenige Meter rechts von ihm hing ein altes, schweres Eisentor schief in seinen Angeln. Einer der etwa drei Meter hohen Flügel stand einen Spalt breit offen. Blickte man durch die kunstvoll ineinander verschlungenen Eisenstäbe hindurch, konnte man einen Sandweg erkennen, der in einem kleinen Waldstück dahinter verschwand. Damien ging langsam darauf zu. Rechts und links des Durchganges thronten hoch oben auf der Mauer zwei geflügelte, steinerne Drachen.
›Wächter längst vergangener Zeiten und sicherlich bewegter Vergangenheit‹, dachte er ehrfürchtig. Die dünnen Äste zweier ausladender Trauerweiden umschmeichelten die Flügel der Drachen wie wallendes Haar die Schultern eines Mädchens. Die Mäuler waren lautlos brüllend geöffnet. Ihre Augen starrten drohend auf ihn herab und strahlten eine düstere, stumme Abwehr aus, die er beinahe körperlich spürte. Ihn schauderte. Über dem Tor an einer Kette hing eine schmiede- eiserne Tafel.
›Hampton Hall‹, entzifferte er mühevoll die verwitterten Buchstaben.
»Na endlich. Und wenn Dr. Pemberton nicht wenigstens drei Flaschen kaltes Bier in seinem mittelalterlichen Kühlschrank hat, soll ihn der Teufel holen.«
Entschlossen drückte Damien gegen den hohen Torflügel. Beinahe erwartete er, dass das schwere Ding quietschen und ächzen würde. Doch wie durch ein Wunder schwang es geräuschlos auf und hinterließ dabei eine tiefe, halbrunde Furche im Sand. Damien betrachtete die Spur, die der Flügel hinterlassen hatte. Dann blickte er auf den Sandweg. Es schien, als wäre er seit langem der Erste, der dieses Tor geöffnet hatte. Aber wie konnte das sein? Es gab doch sicherlich andere Menschen, die auf dem Anwesen täglich ein und aus gingen. Oder gab es noch andere Zugänge zum Anwesen?
›So wird es sein‹, dachte er und zuckte mit den Schultern.
Er schritt hindurch den Weg entlang, bis er den Wald erreichte. Angenehme Kühle erwartete ihn zwischen den zahlreichen Korkeichen und Blutbuchen. Das hohe Blätter- dach der Bäume war so dicht, dass es kaum einen Sonnen- strahl hindurch ließ. Eine dünne Schicht gelber und brauner Blätter bedeckte den Boden. Erste Boten des nahenden Herbstes.
Sein iPhone begann zu klingeln. Damien blieb stehen und zog das flache, silberne Ding aus seiner Hemdtasche.
»Damien Hunter.«
»Honey, ich bin es. Wo zum Teufel steckst du nur? Ich versuche seit Stunden, dich zu erreichen. Aber ständig höre ich eine dumme Computerstimme, die mir mitteilt, dass du nicht zu erreichen bist.«
»Es tut mir leid, meine Süße. Es hat hier so gut wie keinen Empfang. Ich erhielt einen Anruf von Dr. Pemberton und musste heute Morgen kurzfristig nach Mortehoe.«
»Wer ist Dr. Pemberton? Und wo um Himmels willen ist Morte … was?«
»Dr. Pemberton ist der Anwalt meiner Familie. Mortehoe. Es heißt Mortehoe.« Er sprach die Silben gedehnt. »Und liegt in England. Genauer gesagt an der Küste von North Devon, westlich von London, also nicht grade der Nabel der Welt.«
»Wie bitte? Ist das ein Scherz? Du bist in England? Das England in Europa? Was tust du da?«
Damien grinste. Wie konnte sie auch begreifen, dass er keine 48 Stunden zuvor noch mit ihr im Bett gelegen hatte und nun tausende Meilen entfernt am Ende der Welt stand. »Mich um den Familiensitz kümmern.«
Am anderen Ende der Leitung erklang ein glockenhelles Lachen. »Du kümmerst dich um die Familie? Machst du Witze?»
Damien konnte vor sich das Gesicht seiner aktuellen Geliebten Patrice sehen, wie sie sich über seine Worte amüsierte und dabei mit ihren perfekt manikürten Nägeln durchs Haar strich. Er war ein Mann, der sich grundsätzlich nur um sich selbst kümmerte. Um sich und sein Vergnügen. Das wusste jeder, der ihn kannte. Patrice ohnehin. Er hatte sie in einer schummrigen Art-Nouveau Flüsterkneipe im New Yorker Stadtteil Chelsea kennengelernt und sofort gemerkt, dass sie anders war als die Damen, mit denen er sonst verkehrte. Intelligent, gradlinig und weltoffen. Obwohl sie ihn und sein oberflächliches Naturell schnell durchschaut hatte, hatte sie stilvoll darüber hinweggesehen, was er sehr zu schätzen wusste, und war nun seit etwa vier Monaten an seiner Seite. Er genoss die Zeit, die sie miteinander verbrachten, liebte sie jedoch nicht. Patrice wusste auch das und schien es zu akzeptieren. Ein schlaues Mädchen. Vermutlich wusste sie, dass Damien niemanden liebte außer sich selbst. Und dass es niemandem gelang, seinen mühsam geschaffenen Panzer aus Gleichgültigkeit und Kälte zu durchbrechen. Sie kannte ihn besser als jede Frau, mit der er bisher ausgegangen war, wie er zugeben musste. Ihr Lachen verwunderte ihn also nicht. Seine Worte, sich um den Familiensitz zu kümmern, klangen auch für ihn seltsam in seinen Ohren. Wie der schräge Klang in einem Orchester, der keinem der Zuhörer entging.
»Gezwungenermaßen«, erklärte er mürrisch. »Wenn es nach mir gegangen wäre, würde ich jetzt entspannt in meinem Sessel vor dem Kamin sitzen und ein Glas von Davids unvergleichlichem Scotch genießen, das kannst du mir glauben.«
Ein erneutes Lachen. »Ich werde dich nicht weiter fragen, was du treibst. Sag mir nur, wann du zurück bist. Schaffst du es auf die Party der Benthams morgen Abend? Andy hat sich auf der Stoney Hill Farm ein neues Polopony gekauft und will es dir unbedingt zeigen.«
Damien warf einen Blick auf seine Uhr und berechnete kurz den Zeitunterschied zwischen England und New York. »Eigentlich war das mein Plan. Vor allem, weil ich das Tier selbst gern gekauft hätte. Nur ist mir der Drecksack zuvorgekommen«, knurrte er. »Aber das werde ich sicher nicht schaffen, so leid es mir tut, Patrice. Zu allem Unglück hat auch noch der Mietwagen, den ich mir am Flughafen London geholt habe, den Geist aufgegeben. Jetzt muss ich den ver- dammten Rest der Strecke zu Fuß gehen.«
Er hatte einiges an Zeit verloren. Laut seiner Berechnung hätte er die Strecke von London nach Mortehoe in etwas mehr als vier Stunden schaffen müssen. Ein paar Unter- schriften später hätte er sich auch schon wieder auf dem Weg nach London befinden können. Dank seines Schrottwagens konnte er diesen Plan jetzt vergessen. Immer wieder hatte er versucht, den Pannendienst zu erreichen. Doch in dieser abge- legenen Gegend war das Signal des Mobilnetzes so schwach, dass es nicht ein einziges Mal zu einer Verbindung gekommen war. Laut seinem Navi war Hampton Hall nur noch knapp drei Meilen entfernt gewesen. Und so hatte er kurzerhand entschieden, den Wagen stehen zu lassen und den restlichen Weg zu Fuß zurückzulegen. Erstmal angekommen, würde er sicherlich das Haustelefon benutzen können, und man würde einen Wagen schicken, der ihn abholen kam.
»Ich versuche die Angelegenheit hier so schnell wie möglich zu regeln. Dann kehre ich zurück«, versprach er und beendete das Gespräch.
Er ließ das iPhone zurück in die Tasche gleiten und schlenderte weiter. Seine Gedanken schweiften zu dem Tag, der sein bisher recht ruhiges, unkompliziertes Leben aus den Angeln gehoben und ihn hierhergeführt hatte. Es war einer jener Tage gewesen, an denen er besser gar nicht erst aufge- standen wäre. Nicht nur, weil er sich an der New Yorker Börse ziemlich verzockt und somit der Lächerlichkeit seiner Polofreunde preisgegeben hatte. Das allein hätte schon gereicht. Nein, es war der Tag, an dem Dr. Pemberton ihn angerufen hatte.
»Guten Abend, Mr. Hunter. Mein Name ist Dr. Charles Pemberton. Von Pemberton, Cook & Mortimer. Ich rufe aus London an. Ich bedaure die Störung, Sir. Aber Ihre Anwesen- heit auf Hampton Hall ist dringend erforderlich.«
»Ich kenne keinen Dr. Pemberton«, hatte Damien den Anruf des Anwalts kommentiert und war schon drauf und dran gewesen, einfach aufzulegen. Doch beim Erwähnen des alten Familiensitzes in Mortehoe war er hellhörig geworden.
»Sie erinnern sich vermutlich nicht, Sir, aber …«
»Ich weiß wieder, wer Sie sind«, war er dem alten Herrn ins Wort gefallen. »Bitte entschuldigen Sie. Sie haben meinen Eltern lange Jahre zur Seite gestanden, nicht wahr?«
»Das ist korrekt, Sir. Meine Kanzlei hat das Vergnügen, Ihre Familie bereits in der dritten Generation beraten zu dürfen.«
Damien runzelte fragend die Brauen. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich werde mich kurzfassen, um Ihre wertvolle Zeit nicht allzu sehr in Anspruch zu nehmen. Ihre Cousine liegt seit nunmehr zwei Jahren im Koma, was Ihnen sicherlich bekannt sein dürfte.«
Damien keuchte verwundert auf. »Nein. Das höre ich zum ersten Mal. Ich wusste noch nicht mal, dass ich eine Cousine habe.«
»Oh, das bedauere ich, Mr. Hunter. Dann werde ich etwas ausholen müssen. Sie haben eine Cousine zweiten Grades väterlicherseits, Mathilda Ashbury, die nach dem Tod ihres Vaters Hampton Hall geerbt hat. Sie ist dort aufgewachsen und bewohnt das Anwesen nach wie vor. Als Anwalt Ihrer Familie ist es meine Pflicht, Ihre Cousine mit dem heutigen Tag für handlungsunfähig zu erklären und die Angehörigen zu informieren. Es stehen einige wichtige Entscheidungen an, Ms. Ashburys Pläne bezüglich des Hauses betreffend. Daher möchte ich Sie bitten, in den nächsten Tagen vorbeizu- kommen, um die nötigen Unterschriften zu leisten.«
»Weshalb grade ich? Kann das nicht jemand anderes erledigen?«
»Das ist ganz einfach, Mr. Hunter.« Es entstand eine kleine Pause, in der Damien hören konnte, wie Dr. Pemberton in einigen Akten blätterte. Dann fuhr er fort. »Ihr Vater Edward Hunter hat bereits vor vielen Jahren zu Gunsten seines Bruders Sir Arthur Hunter auf seinen Anspruch, was den Familiensitz angeht, verzichtet. Aber sowohl Ihr Vater als auch Ihr Onkel sind bereits verstorben. Somit ging Hampton Hall mitsamt allen Ländereien der Grafschaft und des Titels in den Besitz Ihres Cousins Matthew über. Nach seinem Tod hinterließ er alles seiner Tochter. Ihre Großcousine Mathilda. Lady Mathilda Ashbury, um genau zu sein. Und da sie unverheiratet und kinderlos ist, sind Sie in der Erbfolge der nächste Angehörige.«
Damien erinnerte sich dumpf. Sein Vater war auf Hampton Hall aufgewachsen, hatte das Anwesen jedoch kurz vor seiner Heirat mit Damiens Mutter verlassen und war in sein Stadthaus nach London gezogen. Anders als sein Vater, der im Prinzip nie ganz über den Streit mit seinem um einiges älteren Bruder Arthur hinweggekommen war, war Damien kein nachtragender Mensch. Ihn hatte es nie interessiert, weshalb die beiden Männer gestritten hatten. Waren sie sich nicht einig gewesen, wie das Anwesen verwaltet werden sollte? Wer die Landwirtschaft übernehmen und wer sich um die Ländereien kümmern würde? Oder ging es um Renovierungsarbeiten? Um Geld vielleicht? Er wusste es nicht. Die Geschichte, sein Vater habe auf die Anteile am Familiensitz verzichtet und sich fürstlich auszahlen lassen, hatte ihn nicht gekümmert. Es geschah alles lang vor seiner Geburt. Und wenn seine Eltern leise darüber gesprochen hatten, hatte er nicht zugehört, auch später nicht, als er älter gewesen war. Er wusste nur, dass sein Vater Zeit seines Lebens unter dem Zerwürfnis mit seinem Bruder gelitten hatte. Sein Onkel war nur wenige Monate nach seinem Vater bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen. Damien hatte dieser Meldung damals jedoch nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. War er doch selbst in tiefer Trauer wegen seiner Eltern gewesen und hatte seinen Onkel ohnehin nie kennengelernt. Von einem Cousin hatte er ebenso wenig Kenntnis gehabt, wie von einer weiteren Verwandten. Doch selbst wenn, es hätte ihn alles nicht interessiert. England war für ihn so weit entfernt gewesen, als wäre er dort nicht geboren und aufgewachsen. Es war ein Puzzleteil der Vergangenheit, das in seinem Leben keine Rolle mehr gespielt hatte. Bis jetzt.
»Die Gesetzgebung sieht vor, dass Sie sich bis zu Ms. Ashburys Rückkehr um alle Belange, Hampton Hall betreffend, kümmern müssen«, führte Dr. Pemberton weiter aus.
»Um was für Pläne handelt es sich dabei?«, wollte Damien wissen.
»Ms. Ashbury hat an der Londoner Universität Gesundheitsmanagement studiert. Sie hatte vor, das Herrenhaus zu einer Art Seniorenresidenz für ältere Herrschaften umzu- bauen, die dort dann gegen entsprechende Bezahlung ihren Lebensabend verbringen können. Seit dem Unfall steht alles still. Um die umfangreichen Bauarbeiten endlich fortsetzen oder möglicherweise gänzlich einstellen zu können, das würde jetzt ganz von Ihnen abhängen, benötigen wir einige Entscheidungen. Das wäre in Ms. Ashburys Sinne, wie ich hinzufügen darf, Sir.«
»Heißt sie denn nicht Hunter, wie ich?«, wunderte er sich.
»Nein, Sir. Ms. Ashbury trägt den Nachnamen ihrer Mutter. Ihre Eltern haben erst kurz nach ihrer Geburt geheiratet. Um die Gefühle ihrer Mutter nicht zu verletzen, hat sie den Namen Hunter nie angenommen, denn sie wusste, dass es einst ein Zerwürfnis zwischen ihren Eltern gegeben hatte. Selbst als ihr Vater mit Nachdruck darauf bestanden hat, verzichtete sie auf den Namen.«
»Ein Zerwürfnis?«
»Ja. Als Mathildas Vater damals von der Schwangerschaft erfahren hat, hat er nicht geglaubt, dass er der Vater des Kindes ist. Er war stets ein sehr aufbrausender Mann gewesen. Ein Hitzkopf, um es genau zu sagen. Letztendlich haben die beiden sich dann aber versöhnt und geheiratet. Olivia Ashbury hat ihrem Mann das anfängliche Misstrauen verziehen. Vergessen hat sie es jedoch nie. Deshalb wollte sie auch nicht, dass ihre Tochter den Namen Hunter trägt. Ein schwerer Schlag für Mathildas Vater, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sir. Da Hampton Hall jetzt von einer Ashbury weitergeführt wird, nicht von einem Hunter, wie die vorangegangenen 300 Jahre.«
»Ah, ich verstehe. Und weshalb liegt sie denn nun im Krankenhaus? Was ist passiert? Ein Unfall, sagen Sie?«
»Ja, Ms. Ashbury ist in der großen Marmorhalle die Treppe hinabgestürzt. Seit diesem mysteriösen Unfall vor zwei Jahren liegt sie nun schon im Koma. Aber die behandelnden Ärzte sind recht zuversichtlich, was ihre Genesung angeht. Wenn wir Glück haben, wird sie wieder zu sich kommen. Es ist sicher nur noch eine Frage der Zeit.«
»Wie kommen die Ärzte zu dieser Annahme? Ich habe von Fällen gehört, da sind die Leute nie wieder aus dem Koma erwacht.«
»Ms. Ashburys Gehirnströme sind in den vergangenen Tagen deutlich aktiver geworden. Die Ärzte können sich die- ses Phänomen auch nicht recht erklären. Aber es gibt uns Hoffnung.«
»Warum warten wir dann nicht noch eine Weile, bis die alte Dame wieder fit ist?«
»Junge Dame«, korrigierte Dr. Pemberton. »Ms. Mathilda Ashbury ist noch keine dreißig.«
Damien schüttelte ungläubig den Kopf. Ein Cousin, von dem er nichts gewusst hatte. Eine junge Großcousine, von deren Existenz er keine Ahnung gehabt hatte. Und ein anscheinend baufälliges Anwesen voller Geheimnisse und einer Treppe in der Halle, auf der man besser achtgab, wohin man trat. Mittlerweile hatte Dr. Pemberton Damiens ungeteilte Aufmerksamkeit. Die ganze Sache begann ihn wider Willen zu interessieren.
»Liegt eine Person im Koma und ist nicht mehr handlungsfähig, legt der Gesetzgeber eine Wartezeit von zwei Jahren fest. Diese Zeit ist mit dem heutigen Tag abgelaufen. Es gehört zu meinen Aufgaben …«
»Ich verstehe«, hatte Damien erneut unterbrochen und dabei laut aufgeseufzt.
»Ich bedauere, Ihnen solche Umstände machen zu müssen, Sir. Ich kann Ihnen versichern, dass sich Ihre Anwesenheit auf wenige Unterschriften beschränken wird. Ich gehe davon aus, dass Sie nach einer Stunde bereits wieder auf dem Heimweg sein könnten.«